Das Genre der First-Person-Shooter gehört spätestens seit dem weitgreifenden Erfolg von „Doom“ zu den erfolgreichsten und zugleich meistdiskutierten unter den Computerspielen.
Als ein früher Meilenstein wird „Wolfenstein 3D“ von 1992 angesehen, das es erstmals als immersives Erlebnis inszenierte, bewaffnet durch Korridore voller Feinde zu streifen. Das Motiv des „einsamen Wolfes“, des Protagonisten, der ohne Verbündete in einer Welt von Gegnern bestehen muss, wurde als integraler Bestandteil des Genres etabliert.
„Doom“ brachte 1993 das Genre in sehr viele Kinderzimmer überall auf der Welt, denn im Vergleich zum nur ein Jahr älteren „Wolfenstein 3D“, dass die Dreidimensionalität noch heischerisch im Namen tragen musste, hatte die Immersion stark zugenommen: Sound wurde plötzlich in stereo wiedergegeben und erlaubte eine Verortung der Gegner im Raum nach Gehör, zudem gab es nun nicht mehr nur flache Korridore immer genau gleicher Höhe, sondern auch Treppen, Stege, Brücken, Fenster, Lavatümpel und so fort. Die Technik war weit fortgeschritten, aber: Noch immer waren alle Gegner nur Bitmaps, also flache Pappkameraden. 3D-Modelle, die sich auch noch bewegen konnten, waren 1993 noch nicht denkbar.
Erst 1996 bot „Quake“ ein Spielerlebnis, bei dem man in echten 3D-Landschaften Monster bekämpfte, die ihrerseits als komplett dreidimensionale Modelle herumliefen. Das führte zu dem populären Irrtum (zuletzt reproduziert bei Spreeblick), dass „Quake“ der erste First-Person-Shooter in kompletter 3D-Umgebung gewesen wäre.1
Ein Irrtum ist das deshalb, weil das von Konkurrent Interplay bereits ein Jahr vorher veröffentlichte „Descent“ auch schon ein First-Person-Shooter war, dessen Gegner komplette 3D-Modelle sind. Descent ist in technischer Hinsicht noch um einiges bedeutsamer als „Quake“: Nicht nur konnte man in einem bräunlichen Schloss herumlaufen, sondern das Setting in außerirdischen Minenstationen (also in Schwerelosigkeit) erlaubte 1995 ein ungebundenes Bewegen in jede beliebige Richtung, woraus sich entsprechend auch ein viel tiefergreifendes Raumgefühl ergab. Die Gegner, die man bekämpfte, waren entsprechend auch keine am Boden rumlaufenden Monster, sondern ebenfalls schwerelos fliegende Roboter – dreidimensional.
Leider hat Descent das Pech, dieses Vorreitertum oft nicht zuerkannt zu bekommen, was Quake schon bei dessen Erscheinen (Marketing!) stark in die Hände spielte. Die Gründe: Man sieht keinen waffenhaltenden Arm im Bild. Man ist nicht ans Am-Boden-Rumlaufen gebunden. Und die Gegner sind nur Roboter.
Manchmal wird Descent daher behelfsweise ins Genre der Weltraumshooter gesteckt, wo ihm dann natürlich „X-Wing“ zuvorgekommen wäre: Das hatte schon 1993 Raumschiffe und Asteroiden (also alles, womit man kämpfen oder kollidieren konnte) in echtem 3D.
Vergleicht man mal Screenshots aus beiden Spielen, fällt auf: Tatsächlich haben beide ein eingeblendetes Cockpit (das in „Descent“ konnte man ausblenden). Jedoch ist man in X-Wing permanent von freiem Weltraum umgeben (-> „Weltraumshooter“), in „Descent“ hingegen wird man keinen einzigen Moment im Gameplay erleben, in dem man irgendwo Sterne sieht – ebenso wie „Doom“ und „Quake“ spielt „Descent“ innen.
Auch daher beschießt man in X-Wing (wie auch bei „Wing Commander“ und allen anderen Weltraumshootern) seine Gegner aus größerer, teilweise enorm großer Distanz. In „Descent“ ist ein Gegner im Kampf selten weiter als hundert Meter entfernt, meistens kommt man in Kämpfen auf wenige Meter an diese heran – ebenso wie in „Wolfenstein 3D“ oder „Doom“.
Überdies ist das Gameplay in „X-Wing“ rein missionsbasiert: Für das Vernichten von Gegnern bekommt man Punkte, hat man alle Aufgaben einer Mission erfüllt, ist diese gewonnen, das ist alles – wie im Genre üblich gibt es innerhalb der Missionen keine „Goodies“. „Descent“ lebt wie „Doom“, „Duke Nukem 3D“ und „Quake“ nicht zuletzt davon, dass abgeschossene Gegner Upgrades hinterlassen und man in geheimen Kammern Boni finden kann, mit denen sich Waffen aufrüsten und die eigene Kampfstärke aufbessern lassen.
Außerdem steuert sich der X-Wing (wie die Raumschiffe in den meisten Weltraumshootern) etwa wie ein Flugzeug: Man legt eine gewisse Geschwindigkeit in der Vorwärtsbewegung fest, die dann von selbst gehalten wird, und lenkt dann den Flug durch Schwenkbewegungen. In „Descent“ bleibt man, sobald man die Vorwärtstaste loslässt, stehen, kann sich aber alternativ auch rückwärts oder seitwärts bewegen – ebenso wie in „Doom“, „Duke Nukem 3D“, „Quake“ und „Half-Life“.
If it looks like a duck, swims like a duck and quacks like a duck, then it probably is a duck.
„Descent“ ist kein Weltraumshooter – Schwerelosigkeit, fahrbarer Untersatz und sonstige Ästhetizismen hin oder her. „Descent“ ist ein First-Person-Shooter. Und als solcher der erste in echtem 3D.
Oder?
(„History Line“ war natürlich gar kein Shooter sondern ein Strategiespiel und hatte auch nicht das Geringste mit 3D am Hut. Ich fand das Wort nur sehr griffig für die Überschrift.)
- Tatsächlich ist „Quake“ für ganz andere Errungenschaften bemerkenswert. Die wichtigste davon wirkt bis in die meisten 3D-Spiele der Gegenwart nach: Die Einführung des WASD-Steuerkreuzes. [↩]
der wirklich allererste 3D-shooter war, das nur wenig bekannte, „resolution 101“, von 1990. man fuhr dort mit einem bewaffneten vehikel durch eine art stadt und ballerte auf allerhand zeugs. das game bekam durchweg gute kritiken, aber der publisher hatte es versäumt die werbetrommel zu rühren. für die damalige zeit ein absolutes ausnahmespiel, ich meine mich erinnern zu können, dass mir die kinnlade herab fiel.
By: desperado on 18.11.2009
at 03:52
Ach ich weiß nicht ob es sich lohnt, darüber zu streiten, was der wirlich bestimmt auf jeden Fall erste FPS war (meiner Meinung nach Castle Master von 1990). Descent war auf jeden Fall decent wenn du mir den Kalauer gestattest. Den ersten Teil konnte ich mangels Rechner nie spielen, aber der 2. Teil hat mich in den Wahnsinn getrieben (und war dafür verantwortlich, dass mir oft genug schlecht wurde vorm Rechner). Sonderlich weit gekommen bin ich allerdings nie, ich habe mich in den Levels einfach nicht zurecht gefunden.
Ich stimme dir schon zu, Descent war das erste Spiel, in dem man sich wirklich in 3 Dimensionen zurecht finden musste. Auf D2 hätte ich ja mal wieder große Lust, aber da ich jetzt wieder weiß wie umständlich es sein kann, alte Games zum Laufen zu kriegen, spare ich mir die Zeit lieber…
By: daMax on 18.11.2009
at 08:31
@desperado
Sehr interessanter Beitrag, vielen Dank dafür!
Ich hab von „Resolution 101“ wirklich noch nie gehört, sieht auch für 1990 verdammt eindrucksvoll aus.
Deine Schilderung und die Screenshots erinnern mich aber stark an „Encounter!“ von 1983. Kennst du das? Ist das was ähnliches?
Und: Bist du dir sicher, dass „Battlezone“ alldem nicht schon 1980 zuvorkam? Wenn ja, warum?
@daMax
Deine Erfahrungen mit D2 teile ich stark. ;)
Das sollte übrigens noch in der DosBox laufen, mir ist das nach etwas Gefrickel auch gelungen.
Ich kann auch jeden verstehen, der das hier für Nitpicking hält. Aber ich finde, dass man auf die Dauer mal von der Common Knowledge („Wie ja alle wissen, war ‚Quake‘ der allererste…“) wegkommen und sich über den tatsächlichen Verlauf der Videospielgeschichte einigen sollte. Wenn man sagt „das sind doch nur Videogames“, dann werden sie das auch immer bleiben, aber man sollte sich auch nicht wundern, wenn andere das dann für überflüssig und verzichtbar halten. Wenn man sagt „Computerspiele sind Kulturgut“, dann muss man sich allerdings auch über das Vermächtnis von bestimmten Einzelstücken unterhalten, sonst hat das keine Grundlage. Und eben darüber, welche Innovation tatsächlich von wem eingeführt wurde.
By: cosmo on 18.11.2009
at 12:50
Decent war vielleicht das Spiel, das mit seinem 3D Konzept einen wichtigen Einfluss auf die Entwicklung der nachfolgenden FPS Spiele hatte. Aber es steht in Punkto Gameplay einfach nicht in der FPS Tradition. Descent steuerte sich komplett anders als alles, was man heute gemeinhin unter einem First Person Shooter versteht. Spiele wie Wolfenstein, Doom, Heretic, Duke Nukem und Hexen sind bzw. waren da schon deutlich näher dran, auch ohne Polygongegner.
Schlussendlich ist natürlich alles Definitionssache. Ich finde es aber etwas sehr bemüht, das FPS Genre so umzudefinieren, dass Descent als ursprüngliches Spiel in der Reihe dasteht.
Auch wenn man ein paar technische Argumente dafür zusammenkratzen kann, es spiegelt doch in keiner Weise die Entwicklung wieder, die man als Spieler mitverfolgt hat, wenn man seit Wolfenstein und Doom gerne Shooter spielt.
Vor einem Vergleich mit X-Wing muss ich mich als alter XvT online-Veteran allerdings auch verwehren.
Descent war einfach ein technisch wegweisendes Spiel, und hatte einen eigenen Ansatz, der aber keinem heutzutage etablierten Genre entspricht. Schade, dass solche Spiele mittlerweile seltener produziert werden, und stattdessen immer nur auf kommerziell bewährtes zurückgegriffen wird. Dass ist wohl auch der Grund, weshalb seit Jahren immer die gleichen Spiele nochmal neu rauskommen, was sich dann Serie nennt. Und ich PC-Spiele aktuell ziemlich langweilig finde..
By: pere on 18.11.2009
at 17:11
Ich glaube, Cosmo wollte eher darauf hinaus, dass Descent der erste Shooter war, wo man sich wirklich in 3 Dimensionen orientieren musste.
By: daMax on 18.11.2009
at 17:50
@pere
Kannst du das präzisieren? Was genau muss denn ein FPS in deinen Augen haben, das „Descent“ fehlt?
Warum es mMn ein FPS ist, habe ich ja oben dargelegt.
„Descent“ war natürlich auf keinen Fall der ursprüngliche FPS. Meine These ist, dass es durchaus ein FPS ist, und zwar der erste FPS mit 3D-Leveln UND Gegnern.
Aber nochmal @pere: Muss „Descent“ nicht zumindest in dasselbe Genre gehören, in das später „Fury3“ kam? Und dann „Forsaken“?
By: cosmo on 19.11.2009
at 02:44
[…] History Line: Der erste First-Person-Shooter in echtem 3D « Zivilschein a few seconds ago from web […]
By: Herr Zivilschein (zivilschein) 's status on Thursday, 19-Nov-09 14:42:14 UTC - Identi.ca on 19.11.2009
at 15:42
@cosmo
Man steuert keine Figur (zugegebenermassen nicht so entscheidend). Es gibt kein Oben, kein Unten und keine Schwerkraft. Man hat zwei zusätzliche Freiheitsgrade in der Bewegung (hoch/runter und rollen).
Das ist alles in allem eine tolle Spielerfahrung, aber als Mensch eben sehr ungewohnt, wenn man nicht gerade Astronautentraining o.ä. gemacht hat. Ich weiss noch, wie ich damals eine ganz Weile brauchte damit klarzukommen, und dass es sich danach immernoch ganz anders anfühlte als bei Doom, Heretic und eben später Quake und Counter-Strike.
Man kann sich jetzt darüber streiten, ob die Steuerung wirklich ein so strenges Kriterium sein sollte, für meinen Geschmack hat sie auf das Gameplay aber sehr viel Einfluss. Wichtiger als die Art und Weise, wie die Spielwelt intern berechnet wird, ist mMn nach die Art und Weise, wie der Spieler mit dieser Welt interagiert. Und ob es in Ihr ein Oben, ein Unten und eine Schwerkraft gibt.
Deine weitläufige Definition für „First-Person-Shooter“ ist auf ihre Weise schlüssig und nachvollziehbar. Ich glaube, sie entspricht aber nicht dem, was man sich im Allgemeinen darunter vorstellt. Deshalb wird Descent immer „vergessen“, wenn über die Ursprünge des Genres gesprochen wird.
Ich sehe auch weder Zwang, noch Möglichkeit, das Spiel in ein heutzutage etabliertes Genre einzuordnen. Damals war es „Action/Geschicklichkeit“, nach heutigen Masstäben wäre es für mich eine Mischung aus FPS- und Weltraumshooter-Elementen, das sich aber im Gameplay von beidem deutlich abhebt.
Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich Fury 3 und Forsaken nie gespielt habe, kann also hierzu nichts beitragen…
By: pere on 19.11.2009
at 18:12
@pere
Ja, diese Erklärung klingt sehr plausibel.
Danke jedenfalls (an alle!) für die erhellende Diskussion, ich habe hier einiges dazugelernt.
By: cosmo on 20.11.2009
at 22:53
Nachtrag: Das von desperado erwähnte „Resolution 101“ hieß in Amerika „Hoverforce“ und wird neuerdings als Abandonware vertrieben.
Für computerspielgeschichtsinteressierte sicher einen Blick wert, weil es mit 1990 das früheste Beispiel ganzer Gebäude als 3D-Modelle in einem Shooter abgeben könnte, aber die meisten Objekte – und alle Gegner – sind halt noch Sprites. Und: Wie ich vermutet hatte, ist das wirklich im Wesentlichen ein aufgemöbeltes „Encounter!“.
By: Manuel on 20.09.2011
at 16:10